Das Wanken des Betrachters - Doris Hansens mikrowelten

mikrowelten bilden die Meta-Idee sämtlicher Konzepte und Realisierungen der in Berlin lebenden Künstlerin Doris Hansen. Ihnen verleiht sie in Form von Installation, Relief, Objekt oder als Zeichnung eine Gestalt; sie sind extraterrestrische Visionen unserer Zukunft.

Die Realisationen bestehen aus möglichst naturfremden Materialien wie Styropor, das wie ein Raum-Skelett unsichtbar von synthetischen Textilien verdeckt wird. Die mikrowelten erweiterte die Künstlerin in den vergangenen Jahren um Scans ihrer Bleistift-Zeichnungen, die sie digital koloriert, sowie um großformatige Reliefe. In den aktuellen Projekten kombiniert Doris Hansen ihre typischen Soft Materials, die eine starke Haptik aufweisen, mit optischen Bestandteilen: So experimentiert sie verstärkt mit LED-Leuchten, die wechselndes, künstliches Licht verbreiten, oder mit Welten, die in einer Plexiglas-Hülle errichtet werden und wie Hemisphären en miniature erscheinen. Gerade die Transparenz dieser Objekt-Membranen oder auch die der Schaufenster, in denen Doris Hansen ihre Installationen regelmäßig ausstellt, betonen die Differenz von diesem anderen Raum zu unserem. Nur zu gut passt der Blick des Betrachters durch diese Membranen zu der Idee eines Raumes, der sich uns nie gänzlich erschließen wird, weil er sich unserer Vorstellung entzieht und uns zurück zu der konkreten Materialität der Werke führt.

Inspiration holt sich Doris Hansen aus der Mikrobiologie, aus mittelalterlichen Weltvorstellungen und vor allem aus Comics und Science-Fiction der 1950er bis 1970er Jahre. So lesen sich die mikrowelten auch als fiktive Welten: Wir teilen den Blick von Flash Gordon oder Barbarella, der vor vielen Jahrzehnten auf das Jetzt gerichtet wurde und über deren Visionen wir heute lächeln können, weil alles doch so anders gekommen ist. Es sind jedoch auch – und vielleicht vor allem – perfekte Welten, die ihren manuellen Herstellungsprozess nicht preisgeben wollen, ja geradezu verschleiern, als würden sie nicht in aufwändiger Handarbeit, sondern selbst industriell und maschinell gefertigt.

Doris Hansen erschafft vielfarbige, anziehende, queere Welten, in denen sie über Material und Herstellungstechnik eine Dekonstruktion der binären Geschlechter bewirkt: Das mit Männlichkeit attribuierte Baumaterial Styropor wird von weiblich konnotierten Farben, Textilien und floralen Motiven wortwörtlich überlagert, die Vorstellungen von männlich/weiblich, homo/hetero werden als kulturelle und bereits historisch gewordene Zuweisungen dekonstruiert: tertium datur. In den mikrowelten besitzen die Bewohner aus FIMO kein Geschlecht.

Auf Ebene der Zeichen sind die mikrowelten widersprüchlich zu rezipieren. So fühlt sich der Betrachter doch durch ihre unglaubliche materielle Präsenz angezogen, seine Gedanken prallen aber gleichzeitig immer wieder auf die Utopien, auf die die mikrowelten referieren. Es herrscht ein unsicheres Gleichgewicht, das, je länger wir uns den Welten aussetzen, ins Wanken gerät und trotz – oder gerade wegen – der enormen Ästhetik des Künstlichen ein Unbehagen in uns auslöst. Denn worauf verweisen diese Welten? Sie verweisen immer auch auf uns zurück und zeigen uns eine leere Stelle unserer Imagination, unsere Zukunft.

Sarah Niesel

Kunsthistorikerin

 

 

 

 

artist statement 

In meinen Arbeiten, die ich als mikrowelten bezeichne, gehe ich von Naturphänomenen aus und entwickle daraus künstliche Paradiese.

Die Materialien der Installationen, Reliefe und Objekte sind möglichst naturfern und industriell gefertigt: Knetmasse, Styropor und synthetische Textilien. Die Künstlichkeit dieser ebenso perfekten wie glamourösen Welt aus Plastik wird verstärkt durch die Einbindung von Formen, die an extraterrestrische Fantasien früher Science-Fiction-Filme und Comics erinnern.

In den mikrowelten  begegnet der Betrachter, der der Natur heute weitgehend entfremdet ist, wiederum nicht der Natur selbst, sondern den Imaginationen von Naturformen als ihm und seiner Zeit gemäße künstliche Utopien.

Neben der Präsentation in Galerieräumlickeiten binde ich die mikrowelten immer wieder in Alltagsräume wie Läden, gastronomische Einrichtungen oder freistehende Vitrinen ein. Wie mikrobiologische Formationen gedeihen die mikrowelten überall.  

Doris Hansen